VORWORT

Ein Gespenst geht um in der ganzen Welt: es ist dies der Gedanke dass Gesellschaften, ihre Gesetze und ihre Institutionen sowohl für die wenigen Wohlhabenden als auch für die maßlos wachsende arme Bevölkerung nur wenig oder gar nichts bedeuten. Die Minderheit unterdrückt die Mehrheit, einerseits durch Instruktion (im Gegensatz zu Bildung), Zwang, Einschränkung, Zerstörung derer die sich in der Überzahl befinden, sowie durch die Begünstigung und Belohnung von Reichtum und Macht weniger andererseits. Gleichsam bilden sich Hierarchien heraus unter Gruppen von Menschen, unter Nationen, unter Interessengemeinschaften, unter Unternehmen und Institutionen. Aus Sicht dieser Hierarchien erscheinen Menschen selbst irrelevant, und somit entbehrlich.

Dieser Tractatus widmet sich einigen alten sowie neuen Konzepten, die unentbehrlich erscheinen für das Verstehen lebender Organismen (uns Menschen inbegriffen), ihrer Umwelten sowie deren Interaktionen. Vergegenwärtigen Sie sich zum Beispiel Konzepte wie Prozess, Wiedereintreten, Organisation, Geschlossenheit, Paradox und Bildung. Interessanterweise entziehen sich diese Konzepte nach wie vor weitreichendem Verständnis und Anerkennung - ungeachtet zahlreicher Bemühungen unterschiedlicher Autoren * diese auf unterschiedliche Weisen in den Vordergrund zu rücken. Vielleicht liegt dies daran dass die Verbreitung und die Allgegenwart dieser Konzepte sie denen gegenüber, die so weitreichend von ihnen umgeben sind, unsichtbar erscheinen lässt. Oder vielleicht stößt das Nachdenken über sie auf Widerstand von Gesellschaften die glauben ihr Fortbestand hänge von der Vorhersehbarkeit (Trivialität) ihrer Mitglieder ab.

Die Propositionen des Tractatus versuchen nicht mehr als eine unvollständige Sammlung meiner Gedanken über diese und verwandte Konzepte ohne Formalismen und Erklärungen zu präsentieren, mit der Intention in meinem Leser Gedanken zu stimulieren, die den meinen ähneln. Ich tue dies indem ich mir meinen Leser als interessierten Beobachter der Welt vorstelle - einer Welt, die den Beobachter beinhaltet. Während jedwedes Lernen lediglich zu provisorischem und zeitlich begrenztem Wissen führt, erfordert das indirekte Lernen von anderen, durch Schrift oder gesprochene Sprache, das Lesen zwischen und hinter den Zeilen, da sich ein Beobachter, so wie ich dies hier tue, nur aus der eigenen Perspektive sprechend (oder schreibend) an die Perspektive eines anderen Beobachters richten kann. Mit Ihrer Perspektive beziehe ich mich auf das Was und das Wie Sie über die Welt, Ihre Mitmenschen und, darunter, sich selbst denken und fühlen. In diesem Sinn spielt Sprache im Tractatus die Rolle, die Marmor in der Bildhauerei spielt oder Öl in der Malerei.

Auch wenn dem Leser einige Aussagen als Definitionen oder Erklärungen erscheinen mögen, sollte er diese dementsprechend als Metaphern entgegennehmen und sie aus der eigenen Perspektive interpretieren.

Ich widme diese Gedanken denjenigen, denen es über die Jahre ihrer Erfahrung gelungen ist, sich einen jungen und denkenden Verstand zu erhalten - trotz einer „Bildung”, die sich dem Ziel verschreibt Studenten zum Schweigen zu bringen, ihre Kreativität zu unterdrücken und ihre Gedankenhorizonte zu verengen anstatt sie zu öffnen. Sich einen jungen Verstand zu erhalten erfordert Mut, da ein junger Verstand oft sagt was er denkt, was ihn üblicherweise in Schwierigkeiten bringt. An einigen Orten, harmlos erscheinenden Orten, gibt es harmlos erscheinende Menschen, die andere, die sagen was sie denken, foltern und töten.

So wird ein junger Verstand zum Beispiel ohne Weiteres die katastrophalen Auswirkungen des im Folgenden beschriebenen Wiedereintretens erkennen, dessen sich die meisten in aller Unbekümmertheit unbewusst sind. Wenn Menschen ihre Kinder instruieren anstatt sie zu bilden, dann werden diese Kinder ihre Kinder wiederum umso mehr instruieren (sie entsprechend weniger bilden) und diese wiederum werden sich dementsprechend ihren Kindern zuwenden und so weiter. Fallen solche Menschen nicht ungebildeten Führern zum Opfer, dann werden sie sich früher oder später in eine Bevölkerung von Schwachköpfen entwickeln, die ausschließlich Regeln befolgen - berechenbare Kreaturen, Ameisen auf einem Amensenhügel, ohne Menschlichkeit. Das traurige (glückliche?) Ende der Geschichte: Das Bewusstsein ihrer eigenen Unzulänglichkeiten wird ihnen abhanden kommen.

Dies demonstriert ein Wiedereintreten, das Menschen erkennen (verstehen) sollten, um dessen Verlauf Einhalt zu gebieten. Ökologische Kreisläufe (wie die der Wälder, Seen, Flüsse und Ozeane) stellen Beispiele von Wiedereintritten dar, die Menschen erkennen (verstehen) sollten, um sie zu bewahren. (Ich schlage hier ein eher philosophisches und weniger naturwissenschaftliches Verstehen vor, da es vorbeugen soll anstatt zu beklagen: angesichts der Komplexität dieser Systeme erweist sich ihr naturwissenschaftliches Verständnis als unangemessen, oder zumindest als zu langsam und zu spät.) Vergegenwärtigen Sie sich weiterhin diejenigen Wiedereintritte, die von Menschen initiiert werden müssen, um die Potentialitäten riesiger Teile ihrer Bevölkerung zu entwickeln (wie zum Beispiel Frauen, Kinder und andere Gruppen an allen Orten), deren Chancen auf Entwicklung und Bildung aufgrund sorgfältig ausgewählter archaischer und kurzsichtiger kultureller, politischer und wirtschaftlicher Altlasten und Bräuche behindert werden oder gar nicht existieren. Menschen sollten Wiedereintritte dieser Art dadurch in Gang setzen dass sie die instruktive Verbreitung solcher archaischen und kurzsichtigen Altlasten und Bräuche an jüngere Generationen unterbinden.

Ebenso wird ein junger Verstand ohne Weiteres begreifen, dass einige Individuen oder Gruppen sich ihre Vermögen angehäuft haben oder weiterhin anhäufen indem sie Macht ausnutzen, die ihnen durch Hierarchien zueigen wurde (welche durch eben diese Individuen oder Gruppen entworfen und erhalten werden). Diese wenigen, die die breiten Massen ausnutzen, provozieren soziale, wirtschaftliche, ökologische und andere Katastrophen anstatt sie zu vermeiden. Ein junger Verstand wird auch ohne Weiteres begreifen dass Machtpolitik, deren vermeintliche Großzügigkeit etwa darin besteht, die Massen mit gemeinnützigen Initiativen und Spenden für „gute Zwecke” etc. oder mit organisierter Religion und mit von Wohlhabenden unterstützten oder initiierten Aktionen zu beschwichtigen, die monumentale Ungerechtigkeit vertuscht, die sie selbst verursacht. Ein junger Verstand wird darüber hinaus erkennen, dass Gesellschaften dieser Art solche Diebe nicht nur tolerieren, sondern diese oftmals noch zelebrieren und nachahmen. Dies ist ein klares Beispiel eines ungesunden Wiedereintretens.

Diese unvereinbaren Diskrepanzen in der Verteilung von Macht und Wohlstand verursachen dogmatische und unüberwindliche Ideologien, die zu grundlegenden sozialen Veränderungen und zum Verlust von Menschenleben führen. Gelegentlich kommen mehr Menschen in den Genuss der Fortschritte von Zivilisation. Öfter jedoch vergrößern diese Fortschritte den Wohlstand und die Macht derer die bereits genug Macht, Wohlstand und Dickfelligkeit innehaben und provozieren auf diese Weise Konflikte. Zwischen Konflikten tröstet organisierte Religion die Armen und sie beruhigt das Gewissen der Reichen Angesichts ihres wachsenden Reichtums; somit hält Korruption Einzug.

Die soweit beschriebenen Ideen müssen dem Leser als so grundlegend und einfach, und die Lösungen, die sie nahelegen als so klar und auf der Hand liegend erscheinen, dass er nur das folgende daraus schließen kann: Individuen und institutionalisierte Gruppen (die durch sich selbst ins Leben rufen oder von anderen ins Leben gerufen werden) treffen Entscheidungen, die andere Menschen betreffen. Nach Macht strebend und Macht ausübend, ignorieren sie soziale Verantwortung, Bildung und Voraussicht. Und da Macht diese Unzulänglichkeiten in den Augen derer, die sie innehaben und ausüben sowie für deren Gefolgschaft verschwimmen lässt, führt dieses Wiedereintreten allzu leicht zu Maßlosigkeit und zu Machtmissbrauch.

Ironischerweise scheint es, als erhalte sich diese Sachlage selbst, da Individuen oder Gruppen in solchen Positionen und Institutionen (Universitäten eingeschlossen) das Denken und das Betreiben von Konversation aufgeben, wodurch sich ihre Macht andere zu beherrschen vermehrt (ein ungesundes Wiedereintreten, und ein bedauernswertes obendrein, da es die Gesellschaft und ihre Zukunft beeinflusst). Darüber hinaus zerfallen und verschwinden selbst nobelste Ziele, um als rücksichtslose Selbsterhaltungs-Maßnahmen wieder in Erscheinung zu treten: um unter dem Zwang von Macht, durch Einschränkung und Zerstörung gegenwärtige Kritiker zum Schweigen zu bringen und um durch mehr Instruktion und weniger Bildung zukünftige Kritiker zum Schweigen zu bringen. Infolgedessen ist eine überwältigende Zahl von Menschen Krieg, Armut, Hunger, mangelhafter Gesundheitsvorsorge und mangelhafter Bildung ausgesetzt.

Solange Chancengleichheit noch in einer fernen Zukunft liegt, sollten Menschen daher extremem Reichtum und extremer Armut (soziale Gerechtigkeit hat in beiden Fällen wenig oder gar keine Bedeutung) Einhalt gebieten, indem sie ihnen Grenzen setzen. Solange große Reichtümer existieren, kann Demokratie nur als Trugbild existieren. Denn selbst wenn es einigen gelegentlich gelingt, ihre gewünschten Angeordneten zu wählen, übernehmen jene die über großen Reichtum verfügen prompt das Steuer mittels Einflussnahme, Bestechung, Androhung oder Druck und lenken das Land so als teile ein jeder ihre Ansichten. Diejenigen die sich trauen sich dem entgegenzusetzen werden die oben bereits genannten Konsequenzen erleiden.

Was noch beunruhigender ist: trotz aller Distanz, die institutionalisierte Wissenschaftler vorgeben zwischen sich und organisierter Religion zu wahren, scheinen sie sich ihr darin anzuschließen, die Bedingungen der Not leidenden Massen nicht zu verbessern und stattdessen den status quo zu wahren. Organisierte Religionen, seit langem als Opium für das Volk bekannt, predigen dass Gläubige nach ihrem Tod reichlich Trost erwartet für all ihre Miseren im Leben. In weitgehender Übereinstimmung bieten institutionalisierte Wissenschaftler und Technologen ihre eigene Farce an: das Versprechen einer utopischen Zukunft auf der Basis des illusorischen Konzepts Fortschritt. Wie bei den Klerikern ersetzt die Zukunft die Gegenwart auf dass die Mehrheit ihre Misere und ihre Unterdrückung für den Moment vergesse.

Während sich Wissenschaft und ihre Anwendungen, ohne philosophische und/oder politische Perspektive mit beklagenswerten Konsequenzen und mit wenig oder oder keinem Protest der beteiligten „Wissenschaftler” an den Höchstbietenden verkaufen, erheben einige wenige ihre Stimmen in dem Versuch, die Essenz von Menschlichkeit und Gesellschaft zu verstehen, um andere an diesem Verständnis teilhaben zu lassen, so dass eine neue, längst überfällige menschliche Gesellschaft weder ihre Mitglieder noch sich selbst zerstört.

Vielleicht das heimtückischste Wiedereintreten resultiert aus dem törichten Vorhaben einer Gesellschaft, ihren Nachwuchs zu „erziehen” um sie in eine bereits korrupte Gesellschaft einzuführen, in der, koste es was es wolle, Erfolg nur durch Macht und Reichtum erreicht wird. Um dies zu erreichen, benutzt die Gesellschaft Instruktion, organisierte Religion, Propaganda, Täuschung und andere Methoden, um ihre unwillige Jugend (die sich der gesellschaftlichen Korruption bereits sehr wohl bewusst ist) zu überzeugen und zu zwingen. Dies vereitelt die ursprüngliche Intention von Bildung und führt in einen selbstzerstörerischen Kreislauf (ein Wiedereintreten), der jegliche Hoffnung, die Jugend für eine bessere Gesellschaft zu Bilden zunichte macht.

Um sich dieser Sachlage, auf eine gegenwärtig durchaus als bedrohlich wahrgenommene Art, anzunehmen, schlägt der Tractatus vor, sich anstatt auf logisches und naturwissenschaftliches Verstehen, das sich typischerweise der Suche nach „Wahrheit” verschreibt, besser auf das Erkunden der philosophischen Möglichkeiten zu verlassen. Der Tractatus schlägt weiterhin vor auf die Nutzung von Logik und Naturwissenschaft, falls nötig, lediglich als Werkzeuge für das Bewerkstelligen der durch philosophisches Verständnis bestimmte(n) Aufgabe(n) zurückzugreifen.

Ich nehme logisches Denken an sich als eine Krankheit wahr, von der wir uns selbst, wie im Tractatus aufgezeigt, distanzieren müssen. Ich glaube, dass dies viele verunsichern und verärgern wird, die sich selbst für „besser gestellt” und/oder „zufrieden” halten, die es vorziehen, die miserablen Zustände in der Welt zu ignorieren und dabei zu vergessen, wer diese Zustände hervorgebracht hat; diejenigen die es vorziehen, ein logisches Denken willkommen zu heißen, es einzufordern, oder sich ihm anzupassen, welches frei ist von Konflikten und Widersprüchen. Ich glaube weiterhin dass dies diejenigen Logiker, Mathematiker und andere verunsichern wird, die uns „purifiziertes” logisches Denken anbieten.

Viele werden die hier präsentierten Gedanken verstehen. Doch wenige, wenn überhaupt jemand, werden dementsprechend handeln...es sei denn Gedanken können einen Sturm verursachen.

Viele haben mit ihrem Schreiben und mit ihren Konversationen meine Gedanken angeregt. Da mein Schreiben jedoch kleine und große Unterschiede zu ihrem Denken aufweist, gebe ich keine Quellen an und drücke einfach ihnen allen meinen uneingeschränkten Dank aus. Ich erwähne nur Luis Borges, Herbert Brün, Humberto Maturana, Gordon Pask, Bertrand Russell, Heinz von Foerster und Ludwig Wittgenstein. Außerdem möchte ich meinen besonderen Dank Jamie Hutchinson, Olga Trullenque Alvarez und Thomas Fischer aussprechen, die mein Manuskript gelesen, Hinweise gegeben und auf die eine oder andere Weise zum Tractatus beigetragen haben. Ich schulde meinen Studenten Dank für die Inspiration und den Antrieb zu kämpfen für eine Bildung für alle, auch derer, die sie verloren haben.


Urbana, 1991–2008. R.B.U



*Anm. d. Übers.: Um die Nähe zum Originaltext möglichst zu erhalten verwendet diese Übersetzung meist männliche Geschlechtsangaben, schießt aber damit das weibliche Geschlecht stets implizit ein.